Raus in die Wildnis
Auf der Suche nach mir selbst packte ich meine Sache und folgte meiner Sehnsucht in die Wildnis. Zurück kam ich mit der Erkenntnis, dass das hier keine Generalprobe ist und mein Leben im Hier und Jetzt das Einzige ist, was ich habe.
Wo ich her kam
Ich war Anfang 30 und hatte wirklich keine Lust mehr auf meinen gähnenden Alltag. Im Job lief es nicht sonderlich und trotzdem saß ich beinahe Tag und Nacht vor dem Computer, um Aufträge auszuführen, für die ich wahrscheinlich sowieso nicht bezahlt werden würde. War es das, was ich mir vom Leben erhoffte? War ich der, der ich gerne sein wollte? Sicher nicht! Als ich wieder an einer Computeranimation für irgendeine drittklassige Fernsehsendung saß, dachte ich an meine Kindheit zurück: Neugierig die Wälder erkunden, phantasievolle Abenteuer erleben und einfach sein. Das war wohl das, was wir die Unschuld der Kindheit nennen. Und wo war sie jetzt? Verloren gegangen irgendwo zwischen Girokonto und Abgabetermin. Oder, wie sich später herausstellte, einfach vergessen.
Keine Generalprobe
Auf der Suche nach mir selbst und nach einem wertvolleren Leben beschloss ich, einige Tage durch die Berge zu wandern. Es regnete ununterbrochen und am letzten Tag riss mich ein rasend angeschwollener Bergbach in einem Augenblick der Unachtsamkeit einfach fort und ich starb. Es gab einen Lebensretter, dem ich bis heute wirklich dankbar bin und es gab diesen einen Moment. Den Moment, in dem alles still steht, in dem Dir bewusst wird, dass das hier keine Generalprobe ist, dass das hier das einzige Leben ist, das Du hast.
Eine zweite Chance
Nachdem ich mich wieder erholt habe, blieb mir nach dieser zweiten Chance fast nichts anderes übrig, als alle Zelte abzubrechen und meiner Sehnsucht zu folgen nach Wildnis, nach Alleinsein, nach Echtheit, denn dieses eine Leben wollte gelebt werden. Ich entschied mich, in die wilden Wälder der italienischen Voralpen zu ziehen, allein von der Natur zu leben und nach dem zu suchen, was in mir schlummerte.
Nur mit dem Nötigsten, oder was ich dafür hielt. Das hatte nichts mit Mut zu tun, sondern einfach mit Notwendigkeit. Das Gegenteil war sogar der Fall, denn niemals zuvor habe ich solche Ängste ausgestanden wie von dem Moment der Entscheidung, dass ich in den Wald gehe, bis zu dem Zeitpunkt meiner Abfahrt. Wovon sollte ich mich überhaupt ernähren? Wo sollte ich wohnen, wie halte ich mich warm, was passiert, wenn ich krank werde? Brauche ich ein GPS? Notfallraketen? Antibärenspray? Ich hatte noch nie irgendwas mit Survival zu tun und das einzige Kraut, dass ich sicher erkannte war die Brennnessel. Mir wurde es schmerzlich bewusst: Ich hatte überhaupt keine Ahnung von diesem Planeten und war einfach ein verwöhntes Kind der Überflussgesellschaft. Doch keine Angst, keine Scham und kein Zweifel konnte mich von meinen Plänen abhalten. Die Sehnsucht war zu groß.
Triumph des wahren Ichs
Ich kam im Oktober an und baute mir in einem geheimnisvollen Eibenwald erst eine Plane, dann einen Unterschlupf und später einen Verschlag, den ich „Hütte“ nannte. In meiner ersten Nacht hatte ich einen Traum, in dem eine Horde wilder Bauern mit Fackeln und Mistgabeln zwei kalte und unheimliche Aliens aus einem Keller vertrieben. Als ich aufwachte, fühlte ich mich großartig, denn die schlimmsten Ängste schienen besiegt, mein wahres Ich hat triumphiert und all das, was ich nicht war, einfach raus geworfen. Das Paradies auf Erden konnte nun beginnen. Doch wie nah Himmel und Hölle beieinander liegen sollte ich erst noch erfahren.
Recht schnell hatte ich gelernt irgendwie zurechtzukommen. Ich hatte klares Wasser, einen Unterschlupf, konnte Feuer machen und fand haufenweise Maronen, die mich eher kräftiger werden ließen, statt schmaler. Doch die Probleme ließen nicht lange auf sich warten: Andere Kreaturen wie die Brandmaus oder der Eichelhäher waren mit allen Wassern gewaschen und plünderten erfolgreich meine Vorräte. Dauerregen und Sturm ließen meine Hütte mehr als einmal zusammenkrachen und als Sahnehäubchen des Grauens stand mir einer der härtesten Winter seit Jahren bevor. Mein Traum von Freiheit und Selbstfindung zerbrach blitzschnell und ich erkannte, wie abhängig ich war. Nicht nur von den zivilisatorischen Errungenschaften sondern abhängig vom Wetter, von den Tages- und Jahreszeiten, vom Nahrungsangebot und vor allem von meiner eigenen Laune. Denn hier lag die wahre Herausforderung: Ich war alleine mit mir! Eine ätzendere Gesellschaft hätte ich mir nicht aussuchen können. Wie war ich es doch gewohnt, die Verantwortung abzugeben und alles Üble auf andere zu projizieren. Das funktionierte hier in der Wildnis ganz und gar nicht. Wie oft habe ich Bäume beschimpft, Steine getreten und Vögel voller Zorn verfolgt. Sie alle schienen mich mitleidig anzusehen und zu sagen: „Hier ist nur einer, der sich verletzt!“ Das Wetter, so glaubte ich, war garantiert nur dafür da, um mich zu schikanieren und wie sehr kochte mein Zorn, während ich mit dem Regen und der Kälte kämpfte um sie zu verjagen. Es hat viele schmerzvolle Kämpfe gebraucht um zu erkennen: Der Regen gewinnt immer! Lange Zeit fühlte ich mich, als würden alle Dämonen eines tibetischen Höllengemäldes in mir toben und ein Frieden schien unmöglich.
Ein Teil von allem
Warum habe ich nicht schon viel früher den Wald verlassen und diese extreme Idee von Selbstfindung einfach losgelassen? Warum habe ich mir das angetan, wo ich doch in einem kuscheligen Bett schlafen könnte und ein erholsames Schaumbad zu Hause in Deutschland hätte nehmen können? Die Wildnis brachte das schlimmste in mir hervor. Erst später erkannte ich, dass sie das tut, damit es gesehen und anerkannt werden und schließlich heilen konnte. Immer wieder durfte ich kurze Einblicke nehmen in das, was es bedeutet, wenn man wirklich ein Teil von allem ist. Nicht getrennt, sondern Verbunden mit den anderen Lebewesen, aber auch mit den Steinen und dem Fluss. Und wie selbstverständlich hatte es sich angefühlt! Unspektakulär, weil es so natürlich ist, wenn die Sinne zur reinen Sinnlichkeit verschmelzen und ich den Vogelschwarm in mir spüren und den Sonnenstrahlen lauschen konnte. In den dunkelsten Momenten, in denen ich wieder gegen mich selber kämpfte und jede Hoffnung verloren sah, vernahm ich einen Gesang. Eine sanfte Stimme aus dem Felsen, aus der Erde. Vielleicht hatte ich in diesen Momenten halluziniert, aber wenn, dann bin ich dafür sehr dankbar, denn in diesen Momenten fühlte ich mich getragen und wusste, ich würde stets ein Teil dieser Erde sein und niemals getrennt oder allein.
Ort der Lebendigkeit
Erst als ich wieder heimkehrte integrierten sich die ganzen Erlebnisse nach und nach. Ich war entschleunigt wie eine Galappagosschildkröte und hatte arge Schwierigkeiten mit dem absurden Tempo der Menschenwelt mitzuhalten. Heute schlafe ich wieder gern in kuschligen Betten. Die Welt ist wieder hastig geworden aber ich darf nun meine Erfahrungen an andere Menschen weitergeben. Ich erinnere mich noch ab und zu an den tröstenden Gesang der Erde und die Maus, die mich bestohlen hat. In diesen Augenblicken lasse ich mich vom Pulsieren dieses lebendigen Planeten einfach tragen und tauche in diese Lebendigkeit ein, die uns allen einfach zusteht. Wenn mich die Leute heute fragen, was die Essenz dieser Zeit im Wald war, kann ich nur mit einem Wort aus tiefstem Herzen antworten: Dankbarkeit.
Monika
August 22, 2017 at 1:50 pmDurch “Zufall” habe ich deine Seite gefunden und mit klopfendem Herzen deinen Beitrag gelesen- wunderschön, wahrhaftig und poetisch! Wenn du ein Buch über deine Erfahrung schreiben willst, lass es mich (und alle anderen) wissen. Ich würde es kaufen! Viele Grüße aus dem hohen Norden (Hamburg) von einer ebenso naturbegeisterten
andrelorino
August 23, 2017 at 9:41 amLiebe Monika,
vielen Dank! Ein Buch ist in Arbeit, allerdings nicht als Tatsachenbericht. Dennoch wird es den selben Wandlungsprozess thematisieren 🙂
Viele Grüße zurück aus dem Süden,
André
Monika
August 30, 2017 at 7:49 amLieber Andre´,
na, da bin ich ja mal gespannt!
Viele Grüße,
Monika